Das macht Cartier anders als die Konkurrenz

Cartier verfolgt eine Strategie, die für die Uhrenwelt ungewöhnlich ist: Bei den Uhren der französischen Luxusmarke muss sich die Mechanik der Schönheit unterordnen. Mit erstaunlichen Ergebnissen.
Text Mira Wiesinger
Im modernen Think Tank von Cartier im Schweizer Ort La Chaux-de-Fonds arbeiten 120 Kunsthandwerker.

Zeit ist allgegenwärtig, denn Uhren sind überall: auf dem Smartphone, dem Computer, am Handgelenk und in öffentlichen Gebäuden. Das Leben ist nach ihnen ausgerichtet, selbst unsere innere Uhr funktioniert zuverlässig, sie weiß, wann es Zeit zum Aufwachen oder Essen ist. Doch wie lang ein Augenblick dauert, hängt auch von uns ab. Die gleiche Zeitspanne kann an uns vorbeirasen oder sich wie Kaugummi ziehen. Je nachdem, ob wir uns köstlich amüsieren oder auf etwas warten. Im Schweizer La Chaux-de-Fonds begeben sich die Uhrwerker von Cartier auf die Suche nach der vergnüglichen Zeit, erschaffen Zeitmesser, die durch ästhetische wie technische Raffinessen Menschen verblüffen und verführen sollen. Wer seine Kundschaft überraschen will, muss die Zeichen der Zeit lesen – und ihnen voraus sein.

Bei Cartier Uhren hat Schönheit Priorität

Die fast quadratische Fliegeruhr Santos gehört zu den ikonischsten Uhrendesigns von Cartier.

Deshalb hat sich Cartier in dem Schweizer Uhrenstädtchen gleich zwei Standorte gesichert: Der moderne Think Tank, erbaut im Jahr 2000, steht für die Zukunft und beherbergt auf 33.000 Quadratmetern rund 120 Kunsthandwerker mit unterschiedlichsten Fähigkeiten, so wie auch neueste Technik. Etwa 3-D- Drucker, CNC-Fräsen und auch Cobots, das sind Roboter, die direkt mit Menschen zusammenarbeiten. Hier werden die klassischen Uhren aus Edelstahl und Gold entworfen und gefertigt, aber auch technische Novitäten entwickelt, wie zum Beispiel ein photovoltaisches Uhrwerk. Nebenan, in einem restaurierten Bauernhaus, befindet sich seit 2014 die Maison des Métiers d’Art, mit der Haute Horlogerie, der Haute Joaillerie, der Intarsienarbeit und den Emailletechniken. Also die Tradition und das uralte Wissen des Hauses, das 1847 von Louis-François Cartier gegründet wurde.

Beide Standorte sind für Cartier gleich wertvoll. Denn anders als eine Uhr, deren Zeiger nur das Hier und Jetzt kennen, kann der Mensch sich an verronnene Zeit erinnern. Und er stellt sich vor, was die Zukunft bringen könnte. Diese Erkenntnis beschreibt den Schaffensprozess von Cartier. Jede Neuschöpfung möchte sich an Dagewesenes anlehnen, dabei aber nicht nostalgisch sein, sondern nach vorn blicken. Dabei verfolgt Cartier eine in der Branche ungewöhnliche Strategie: Auch wenn man schon sechs Jahre nach der Gründung die ersten Uhren herstellte, werden sie bis heute durch die Augen eines Juweliers betrachtet. Das bedeutet, dass die Technik immer dem Design dienen und Schönheit oberste Priorität haben muss. Anders als in der bodenständigeren Feinuhrmacherei, die eher der Mechanik verpflichtet ist.

Die Technik wird dem Design angepasst

Die Goldschmiedin Jeanne Toussaint entwarf den legendären Panthère, das heutige Wappentier von Cartier.

Und so muss sich bei Cartier die Funktion stets der Form anpassen und das Runde schon mal ins Eckige. Für die beinahe quadratische, ergonomisch geschwungene Fliegeruhr Santos, für die ovale und gewölbte Baignoire oder für das Modell Crash, die an die zerfließenden Uhren von Salvador Dalí erinnert, musste die Mechanik für das Design geändert werden. Das ist selten in der Welt der Uhren. Um die Philosophie noch besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte der Maison Cartier – und die des Schmucks, zu der gerade hier eben auch die Uhren zählen. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts unterlag das Tragen von Juwelen vielen Regeln. Es gab Schmuck für unterschiedliche Alter, Rollen und Anlässe. In der westlichen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts galten figurative Geschmeide als Affront und symbolträchtige Tiere als unsittlich. Versuchten neureiche, meist amerikanische Familien um die Jahrhundertwende noch, die Gepflogenheiten des europäischen Adels zu kopieren, lag der nächsten Generation viel daran, ebendiese zu brechen.

In den 1920er- und 1930er-Jahren sehnten sich reiche und unabhängige Erbinnen nach Entwürfen, die signalisierten, dass sie mit der viktorianischen Frau nichts mehr gemein hatten. Nach Schmuck also, der ihnen und nicht ihrem Ehemann gefallen und für ihr freies Dasein stehen sollte. Dies war die Zeit der dritten Generation, der Brüder Louis, Pierre und Jacques Cartier, die Anfang des 20. Jahrhunderts das Geschäft nach London und New York ausweiteten und ihren Namen zu einer globalen Marke machten. Von Reisen nach Indien und in den Fernen Osten brachten sie Steine, Perlen und Edelmetalle mit. Und vor allem: Eindrücke. Stilprägend für Cartier wurde 1909 auch die Aufführung der Ballets Russes in Paris, die mit ihren Kostümen in komplementären Farben die westliche Welt buchstäblich blass aussehen ließen. Zusätzlich brachten Talente, die nicht zur Familie gehörten, frische Impulse in das Unternehmen.

Panther dient als Wappentier von Cartier

Etwa der Zeichner Charles Jacqueau und die Goldschmiedin Jeanne Toussaint, die ab 1910 für kühne Entwürfe sorgte, allem voran für den legendären Panthère, den Panther. Der sollte alles ein, nur kein braves Kätzchen. Ähnlich wie Toussaint selbst, im Übrigen später auch Geliebte von Louis Cartier. Das heutige Wappentier des Hauses, seine Geschmeidigkeit und seine Angriffslust, dient nach wie vor als Quelle der Inspiration und Innovation. Ein Beispiel ist die Révélation d’une Panthère, eine spielerische Armbanduhr, die nach fünf Jahren Entwicklungszeit 2018 auf den Markt kam. Bei jeder Bewegung gleiten mehr als 900 winzige Goldperlen über das Zifferblatt und nehmen dabei die Gestalt einer Raubkatze an. Beim nächsten Pulsschlag verschwindet sie wieder, so mysteriös, wie sie gekommen war. Das erinnert an die Vergänglichkeit eines Moments. Und ist zugleich eine beeindruckende technische Leistung, die durch eine patentierte Spezialflüssigkeit zwischen zwei hauchdünnen Saphirgläsern ermöglicht wird.

Flexibel im Wortsinne sind zwei neuere Erfindungen: Schmiegsam wie ein Handschuh lässt sich die Panthère-Manschettenuhr überziehen. Dabei ist sie aus purem Gold gewebt. Mit Pinzetten aus der Mikrochirurgie und einem Laser wurden Tausende winziger Goldpartikel zu einem Netz zusammengesetzt. Die Aufzugskrone musste unter dem Zifferblatt versteckt werden. Allein die Entwicklung dauerte zwei Jahre, gefolgt von rund 277 Arbeitsstunden für die Anfertigung. Auch beim Modell Coussin gelang es Cartier, ein Edelmetall weich wie ein Kissen zu gestalten. Drückt man auf das Gehäuse, gibt es nach – und plustert sich wieder auf, sobald man loslässt. Doch selbst auf solch feinem Polster wird man sich bei Cartier kaum ausruhen – dafür hat man keine Zeit. Viele Ideen wollen noch umgesetzt und viele Stunden investiert werden – denn etwas Schöneres lässt sich aus Zeit kaum machen.