Gorden Wagener: Ein Arbeitstag mit dem Mercedes-Chefdesigner
Sindelfingen, Benzstraße, Mercedes-Benz-Werk Tor 16. Hier befindet sich das Design Headquarter, eines von fünf Studios weltweit. Werkschutz, hohe Geheimhaltungsstufe. Hausherr ist Gorden Wagener, machtvoller Chefdesigner von Mercedes. Sein offizieller Titel: Chief Design Officer der Daimler Group. Rund 550 Designer arbeiten hier. Der Chef trägt Schwarz, körperbetontes T-Shirt, saloppe Stoffhose, Sneakers.
Das „Design“, wie die Abteilung intern genannt wird, ist die Ideenschmiede des Konzerns. Hier werden Showcars, Forschungsfahrzeuge, Produkt- und Designvorschläge ersonnen. Hier wird entschieden, welche Formensprache die Marke in 20 oder 30 Jahren sprechen wird. „Schönheit gewinnt ihre tiefere Bedeutung dadurch, indem sie auf etwas Zukünftiges verweist“, sagt Gorden.
Entscheidend: Das stimmige Verhältnis zwischen Linien und Flächen
Sämtliche Designdisziplinen des Fahrzeugherstellers arbeiten hier in einem holistischen Ansatz zusammen. Die anderen Standorte in Kalifornien, Shanghai und Nizza sind über das zentrale Studio in Deutschland eng miteinander vernetzt. Darüber hinaus entwickeln alle Standorte eigene Projekte, bedienen lokale Messen oder stoßen Kooperationen, etwa mit Universitäten, an.
Wir stehen an einem 1:4-Modell aus Ton. Im Hintergrund parkt in der Werkhalle ein Maybach in Originalgröße. Gorden hat verschiedene Klingen vor sich ausgebreitet und will den Arbeitsprozess demonstrieren. Dazu holt er aus einem Wärmeschrank ein walnussgroßes Stück hellbraune Modelliermasse, die er zunächst mit der Hand weich knetet. Dann arbeitet er das Material auf der Oberfläche ein.
Schließlich zieht Gorden mit der Klinge vorsichtig hauchdünne Schichten ab. Immer wieder tritt er einen Schritt zurück, betrachtet das Ergebnis aus verschiedenen Blickwinkeln, geht zum Modell, bessert nach. Das Modellieren der Fahrzeug-Silhouette ähnele dem kreativen Arbeitsprozess eines Bildhauers. Die Computersimulation sei im Entwicklungsprozess zwar wichtig, trotzdem fehle der virtuellen Darstellung das letzte Quäntchen Finesse.
Ton-Modelle zeigen die räumliche Wirkung des Autos
Auch wenn Gorden als Spiritus Rector der Fahrzeuggestaltung im Alltag eher mit Denken und Lenken beschäftigt ist, spürt man in diesem Moment seine Begeisterungsfähigkeit und die Freude an der haptischen Arbeit. Es sei der Umgang mit dem Material, das Körperliche, was es brauche, um der Lebendigkeit in der Form Ausdruck zu geben, sagt er.
Der Designprozess selbst beginnt mit einer Grundidee, der Essenz. Das kann, wie im Fall des von Gorden Wagener für den neuen EQS postulierten One Bow Design, eine einzige gebogene Linie sein, die sich komplett von der herkömmlichen Silhouette einer stufigen Limousine löst. Nach und nach entstehen konkretere Skizzen. Diese können sowohl digital als auch auf dem Zeichenblock Gestalt annehmen.
Zahlreiche Entwürfe verdichten und konkretisieren die Grundidee. Den Rahmen dafür liefert das sogenannte Package, die Zusammenfassung aller geometrischen Vorgaben wie etwa Breite, Länge oder Höhe. Auf dieser Basis werden die Skizzen so umgesetzt, dass Dimensionen, Proportionen und Linienführung ein stimmiges Gesamtbild ergeben.
In einem abgedunkelten Meetingroom zeigt Gorden, was das heißt. Gegenüber der Konferenzbestuhlung befindet sich die „Powerwall“, eine gewaltige multimediale Projektionswand. Über einen Regietisch können die Designer hier die Modelle in verschiedenen Perspektiven präsentieren und zum Vergleich auch nebeneinanderstellen.
Die Vorstandspräsentation als besonderer Moment
An der Stelle kommen auch die Ingenieure und Kaufleute hinzu. Sie unterziehen die kreativen Ideen mit gespitztem Bleistift einem Realitätscheck, was etwa die industriellen Fertigungsprozesse, Materialeinsatz und Produktionskosten betrifft. Parallel zu den virtuellen Modellen beauftragt Gorden Wagener die 1:4-Tonmodelle. Denn erst damit lässt sich überprüfen, ob der neue Entwurf auch als dreidimensionales Objekt begeistern kann.
Wurde die endgültige Entscheidung für eine Variante getroffen, entsteht mithilfe von Abtast- und Fräsmaschinen der erste Prototyp im Originalmaßstab. Sämtliche Details werden in Handarbeit gefertigt. Das Ergebnis ist ein täuschend echtes Vorbild, das alle charakteristischen Merkmale des neuen Fahrzeugs sichtbar macht. Abgestimmt auf den äußeren Charakter des künftigen Fahrzeugs wird von darauf spezialisierten Designern das Interieur entwickelt.
Ein besonderer Moment für den Chefdesigner ist die Vorstandspräsentation, die in einer Art Aula stattfindet. Der Raum ist mit bodentiefen Drehbühnen ausgestattet und so gestaltet, dass nichts verfälscht dargestellt wird. „Wenn in diesem Saal ein Auto nicht funktioniert, funktioniert es nirgendwo auf der Welt“, sagt er. „Umgekehrt ist das Gleiche der Fall.“
Ein Auto ist zwar „nur“ ein Gebrauchsgegenstand, aber sein jeweiliges Design ein wesentlicher Erfolgsfaktor. „Als bereichsübergreifende Disziplin ist nicht nur entscheidend, dass das Fahrzeug gut aussieht und emotionale Begehrlichkeit weckt, sondern auch, dass das stimmt, was man auf den ersten Blick nicht sieht – nämlich die sogenannte User Experience als Erlebnis mit allen Sinnen“, sagt Gorden Wagener.
Die Autos sollen muskulös und sinnlich wirken
Gerade bei einem Fahrzeug – einerseits Serienprodukt, andererseits Gegenstand persönlicher Distinktion – kommt es stark darauf an, dass die Codes stimmen. Als Stoßrichtung hierfür wurde der Begriff der „sinnlichen Klarheit“ definiert. Um Mercedes-Benz auch für junge Kunden faszinierend und begehrenswert zu machen, wurde der traditionelle Luxus in einen modernen Luxus überführt.
Die Freude am Unerwarteten gehöre genauso dazu wie ein raffiniertes Spiel mit Kontrasten. Für Wagener und sein Team basiert gutes Design auf beeindruckenden Proportionen, durch die Kraft, Harmonie und Stimmigkeit ausgedrückt werden. Die Autos wirken muskulös und sinnlich, alles fließt, sieht geschmeidig aus.
Zentral ist für Gorden Wagener auch die von Gamern beeinflusste Gestaltung des Cockpits mit großen Bildschirmen. Das Stichwort: MBUX, die Mercedes-Benz User Experience. Gemeint ist ein lernfähiges Multimediasystem. Die Funktionen können intuitiv per Sprache, Berührungen oder Gesten gesteuert werden. 3-D-Ansichten sind genauso möglich wie die Navigation durch ein Augmented Reality Head-up-Display. „Wir nutzen bereits seit einiger Zeit Software aus der Spieleentwicklung“, sagt Gorden.
Längst gehören zum User Experience Department von Mercedes-Benz auch Ingenieure, Grafikdesigner, Softwareentwickler und Programmierer, die bereits in der Gaming-Industrie tätig waren. Diversität und interdisziplinäres Denken sind Gorden Wagener wichtig, die Lebensläufe seiner Leute sind bunt. Gern sucht er den direkten Kontakt zu den einzelnen Designern. Auch deshalb nimmt er sich bei der Besetzung von Führungspositionen viel Zeit für Gespräche. Seine Überzeugung: Er kann nur dann gut sein, wenn auch das Team gut ist.