Diese Maßschneider lassen die Savile Row alt aussehen

Eine junge Generation von Schneidern verbindet kulturelle Trends mit traditionellem Handwerk und mischt so Londons Bespoke-Szene auf. Fünf Namen, die man sich merken sollte.
Text Aleks Cvetkovic

Ein Anzug aus der Savile Row ist ein hohes Gut – und ein höchst traditionelles dazu. Die bekanntesten Maßschneider der Row – wie Huntsman und Henry Poole – pflegen streng ihre berühmten Hausstile. Da mag der modische Ausdruck vieler Gentlemen in den vergangenen Jahren deutlich lässiger geworden sein. Die Row schneidert trotzdem weiter stur formelle Geschäftsanzüge. Viele jüngere Schneider, die sich für kulturelle Trends genauso begeistern wie für traditionelles Handwerk, hat das zunehmend frustriert. Etwa Kimberley Lawton, die der Savile Row den Rücken gekehrt und sich 2018 selbstständig gemacht hat: Sie spricht von einer Generation, „die kreativer sein, nicht ständig nur marineblauen und grünen Tweed schneidern will“. So wie sie haben nun auch andere persönliche Konsequenzen gezogen. Die neuen, lässigen Independent-Schneider der Stadt haben ihre Ateliers in den Vierteln rund um die Row eröffnet – der Kunde profitiert. Ob nun dramatische C-Suite-Anzüge oder raffinierte Wildlederjacken: Die jungen Wilden kombinieren Row-Know-how mit Kreativität, Innovation, Mut und individuellerer Beratung. 

1

Taillour

Eine klassische Londoner Maßschneiderei? Nein, Taillour, das Geschäft von Lee Rekert, 48, und Fred Nieddu, 36, sieht garantiert nicht so aus: Die Kunst an den weißen Wänden kommt von einem lokalen Tätowierer, und zwischen Topfpflanzen hängen hier bunte, halb fertige, mit Wäscheklammern befestigte Jacketts. Der Name des Labels ist altfranzösisch, bedeutet „jemand, der Kleider macht“. Genau das wollen Rekert und Nieddu sein – nicht mehr und nicht weniger. Fünf Jahre lang hat das Duo gemeinsam bei Timothy Everest gearbeitet, im Jahr 2022 dann die eigene Schneiderei gegründet. Nieddu, der kreative Kopf von Taillour, hat in der Savile Row gelernt – und ist jetzt bekannt für Kleidung, die Design und Komfort zusammenbringt. Bei Jacketts kombiniert sein Hausschnitt scharfe britische Linien auf der Vorderseite mit einer weichen italienischen Konstruktion. Schulterpartien sind entweder gar nicht oder nur sehr leicht strukturiert. Hosen verjüngen sich gekonnt von der Hüfte bis zum Saum. Taillour lädt mittlerweile regelmäßig zu Trunk Shows in New York, produziert auch Kostüme für Fernseh- und Filmprojekte. So hat Nieddu Herrenbekleidung für die Netflix-Serie The Crown entworfen, arbeitet jetzt an Stücken für Wonka, das Prequel zum Kinofilm Charlie and the Chocolate Factory. Ein großer Teil ihrer Arbeit, so sagen die beiden, bestehe darin, „neue Ideen zu entwickeln“. Und sie dann entschlossen umzusetzen.

2

Lawton

In den 1970er Jahren galt der legendäre Tommy Nutter als „Rebel on the Row“. Heute erregen die rebellischen Kreationen der 28-jährigen Kimberley Lawton einiges an Aufsehen. Lawton gestaltet doppelreihige Kreidestreifen-Jacken mit geschwungenen Revers und weit geschnittene Bootcut-Hosen mit dicken Manschetten. „Ich möchte, dass sich meine Kundinnen einfach sexy fühlen“, sagt sie. Entsprechend auffällig ist ihr von den 1970er- und 80er-Jahren inspirierter Stil: Mit strukturierten Schultern und schmaler Taille gestaltet sie Anzüge, die Nutters Retro-Designs aufgreifen, dabei auch eigene Akzente setzen. Ihre Entwürfe betonen Figur und Proportion, lassen Sanduhrsilhouetten entstehen. „Das sind keine Herrenanzüge, die für Frauen angepasst werden“, erklärt Lawton ihre Philosophie. „Ich entwerfe Anzüge für Frauen – mit maskulinen Elementen.“ Und der Erfolg gibt ihr recht.

3

Ollie's

Eine Umarmung, ein Bier, ein Gespräch über Gott und die Welt: So beginnt der Besuch bei Oliver Cross. „Mir wurde mal gesagt, dass man Kunden auf Abstand halten soll“, sagt der 37-Jährige. „Ich dachte nur: ‚So ein Quatsch!‘ Ich möchte eine Gemeinschaft von Freunden erschaffen.“ Cross, der mit Bart und langen Locken an einen Wikinger erinnert, hat erst im Alter von 27 Jahren zur Schneiderei gefunden. Als Benson & Clegg, sein letzter Arbeitgeber, 2021 in die Insolvenz ging, machte er sich selbstständig. Am liebsten näht er Jacketts im West End Style – mit etwas Struktur an Brust- und Schulterbereich. Aber auch für Experimente kann sich Cross begeistern. Und für Details: Dass er sich bei einer Anprobe 20 Minuten nimmt, um über den Winkel des Revers oder die Stärke der Ärmelköpfe zu diskutieren, ist keine Seltenheit: „Ich will Nuancen setzen, die Individualität meiner Kunden betonen“, sagt er. „Den einen Ollie’s-Look gibt es nicht.“

4

Speciale

160 Stunden Handarbeit investiert George Marsh, der 31-jährige Mitbegründer von Speciale, in jeden der 15 bis 20 Anzüge, die er pro Jahr herstellt: Anders als die meisten englischen Schneider erledigt er alle Arbeitsschritte selbst, setzt dabei teilweise wunderschöne, von Hand ausgeführte Steppnähte. Hintergrund: Marsh hat in Florenz gelernt – unter anderem bei Antonio Liverano, dem legendären Paten der florentinischen Schneiderkunst. „Dieser Stil hat viel mehr Ausdruck, es gibt viel mehr Handnähte“, erklärt Bert Hamilton Stubber, 29, Marshs Geschäftspartner bei Speciale. „In der englischen Schneiderkunst wird ein Anzug vor allem durch den Schnitt definiert. Dagegen ist der florentinische Schnitt sehr einfach, hier zählt die Art der Herstellung.“ Ein Speciale-Anzug, so Stubber, sei subtiler, legerer Luxus: „Das ist der Anzug für die entspanntesten Stunden des Tages.“

5

Atelier Arena

So sieht wohl ein Senkrechtstart aus: Erst Ende 2021 hat sich Tom Arena selbstständig gemacht, heute stehen schon Namen wie Gary Oldman, Ste­phen Graham, Connor Swindells und Jack Lowden in seinen Auftragsbü­chern. Mit 45 Jahren ist Arena so etwas wie der Elder Statesman unter den wil­den Newcomern der Independent­ Schneider; sein Stilgefühl sprüht trotz­dem vor jugendlicher Frische. „Man braucht etwas Extravaganz und Charak­ter. Du willst, dass dich die Leute an­schauen und fragen: ‚Wow, wo hast du dieses Stück her?‘“ Arena kombiniert Vintage­-Stoffe mit einem klassisch inspirierten Schnitt. Er hat bei Huntsman gelernt, bezieht sich gerne auf die 1960er­ und 70er-­Jahre und ist auch für seine Leder-­ und Wildlederentwürfe bekannt. Besonders extravagant: sein Wildledermantel Navona – der mit gewaltigem Kragen, Pattentaschen und klobigem Halbgürtel dem Stil von Serge Gainsbourg alle Ehre erweist.