Unterwegs: Durch das nordindische Ladakh

Durch das nordindische Ladakh führte einst die sagenhafte Seidenstraße. Heute gilt die Himalaya-Region als touristischer Geheimtipp – der Besuchern so manches abverlangt. Ein Reisebericht.
Text Mary Holland
Ladakh

In der herrlichen Lobby des Oberoi-Hotels in Neu-Delhi nimmt mir der Concierge mein Gepäck ab. "Wo kommen Sie her?", fragt er fröhlich. "Ladakh“" antworte ich. Er schaut mich neugierig an. "Ladakh?", fragt er überrascht. "Da fährt doch keiner hin!"

Ich denke zurück an meine erste Nacht in Ladakh. Ich habe mich in meinen Schlafsack eingedreht, liege in meinem Zelt hoch oben im Himalaya, versuche angestrengt, die dünne, kalte Luft einzuatmen. Der Wille zu atmen ist da, doch der Sauerstoff ist es nicht. Wir sind auf 4500 Meter Höhe in Indiens nördlichster Region, und die Außentemperatur liegt nur knapp über null. Das ist der Grund, warum keiner dorthin fährt.

Dramatischer Abendhimmel über Hanle, einem der berühmtesten Kloster Ladakhs.

Ladakh ist nicht das Indien, das man zu kennen glaubt. Man findet hier weder tropische Hitze noch Tuk-Tuks. Stattdessen kolossale Berge, grasgrüne Ebenen, einsame Seen, schneidend frostige Luft und schwindelerregende Höhe. "Ladakh ist einzigartig, eher wie Zentralasien als Indien", sagt Behzad Larry, mein Führer. Der gelernte Historiker wurde in Zentralindien geboren, hat 2013 das Abenteuerreiseunternehmen Voygr Expeditions gegründet hat und ist schon seit Langem von der Gegend fasziniert. "Wir sind hier auf dieser uralten Welt-Schnellstraße. Hier sind die Leute schon vor Jahrtausenden durchgereist", sagt er.

Gelegen an der Kreuzung vieler bedeutender Handelsrouten, entlang der uralten Seidenstraße, ist Ladakh bis heute ein geheimnisumwitterter Ort. Die Region galt schon historisch als schwer zugänglich. Bis in die 1970er-Jahre war Ladakh für Touristen verschlossen, seitdem hielten die hohen Pässe jeden fern, der nicht wirklich dringend dort zu tun hatte. "Auf Ladakhisch gibt es ein Sprichwort, das sich grob so übersetzen lässt: Nur unsere größten Freunde und unsere schlimmsten Feinde kommen uns besuchen", sagt Larry.

Auslage eines Bäckers in der Landeshauptstadt Leh.

"Die Nomaden haben Köpfchen", sagt Larry, während er seinen Allrad-Geländewagen von Leh, der Hauptstadt der Region, zum See Tsomoriri im Himalaya steuert. Hier soll ich meine erste Nacht in extremer Höhe verbringen, gemeinsam mit sieben anderen Reisenden. Damit, dass sich die Changpa in diesem entlegenen Teil der Welt "nur" halten, ist es nicht getan. Unterwegs auf altbekannten Wanderrouten, auf der Suche nach Weideflächen für ihre Tiere, stehen sie auch vor vielen alltäglichen Herausforderungen. 

Man kann die Modernisierung zwar auf subtile Weise spüren – einige der Changpa besitzen Autos –, doch in vielerlei Hinsicht hat sich das Leben hier seit Jahrhunderten nicht verändert. Das Leben in den Bergen ist hart, dafür sorgen die Höhe, die niedrigen Temperaturen, stets schwankende Lebensmittel- und Wasservorräte genauso wie Wölfe und Schneeleoparden, die sich wertvolles Vieh schnappen.

Ohne sie ging auf der Seidenstraße früher gar nichts: Kameltreiber mit Trampeltier im Nubra-Tal.

Wir sind schon sechs Stunden lang gefahren, als wir die erste Gruppe von Nomaden sehen. Sie jagen vorbei in ihren Jeeps, randvoll bepackt mit Zeltstangen, Yakteppichen und Kisten. Seit Leh folgen wir dem sprudelnden Fluss Indus, wir mühen uns an flachs- und malvenfarbigen Schieferbergen vorbei. Keiner hat behauptet, dass die tibetische Hochebene leicht zu erreichen wäre. Als wir in unserem Lager ankommen, hat Larrys Team schon sorgfältig die kegelförmigen Zelte aufgestellt. Hinter ihnen liegt der schneebedeckte Himalaya bereits in ominösem Schatten. Die Temperatur ist auf eisige sieben Grad unter null gefallen, und während der rote Himmel schwarz wird und die Quecksilbersäule weiter absackt, frage ich mich, wie die Nomaden diesen Ort ernsthaft ihr Zuhause nennen können.

Die Antwort wird offensichtlich, als wir am nächsten Morgen aufwachen und der Himmel so zartblau wie ein Entenei leuchtet. Eine brillante Sonne glitzert zwischen hohen Gipfeln, nebenan mampfen ein paar Pferde goldenes Gras. Ich halte eine Tasse frisch gebrühten Kaffee in den Händen, meine Knochen sind aufgetaut, und vor allem kann ich wieder atmen. In der Nacht hätte ich fast einen Schuss aus der Sauerstoffflasche gebraucht; Larry hält sie für seine Gäste bereit.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass man auf dieser Höhe um Atem ringt, insbesondere dann, wenn man sich keine Zeit zum Akklimatisieren gibt. Eben das hatte ich nicht getan, weil ich mich der Gruppe erst nach der Hälfte ihrer 14-tägigen Reise angeschlossen hatte. Unser Plan an diesem frischen Tag ist es, den aktuellen Standort der Nomaden zu finden. Larrys Expeditionen, begleitet von zwölf bis 16 Mitarbeitern, haben oft eher eine Mission – etwa Nomaden zu treffen oder Schneeleoparden zu sehen – statt einer festen Reiseroute.

Türkis und Koralle schmücken diese traditionelle Kopfbedeckung: Am sogenannten Perak erkennt man hier verheiratete buddhistische Frauen.

Privatzelt mit Propangasheizung

Wo wir unser Lager aufschlagen, hängt von zwei Dingen ab: von der Verfügbarkeit sauberen Wassers und vom Aufenthaltsort der Nomaden. Jeder Gast übernachtet in einem privaten, isolierten Zelt mit

  • Feldbett,
  • Arktisschlafsack,
  • dickem Teppich auf dem Boden
  • und Propangasheizung.

In einem weiteren, gut gewärmten Zelt stehen Eimer mit heißem Wasser zum Waschen bereit, und im Speisezelt werden dampfende Chapatis und Currys serviert.

Tagelang geht es durch den Himalaya; gestoppt wird, wenn eine Landschaft, eine Person oder eine Szene das Interesse weckt. Vielleicht eine Nomadin, die ihre Yaks und Pashminaziegen einen Berg hinaufführt, oder ein Mönch, versunken ins Morgengebet. "Das ist eine andere Art des Reisens", sagt Larry. "Davon hat man viel mehr, es geht um Zugang." Vor allem Verbindungen sind es, die Larry seinen Gästen garantiert: ein unvergleichliches Entree zu Menschen, Gemeinschaften oder Landschaften, mit denen bisher nur wenige Besucher in Kontakt gekommen sind.

Atemberaubend ist nicht nur die dünne Luft auf dem tibetischen Hochplateau, sondern auch die kalte Schönheit der kargen Landschaft.

Als wir erfahren, dass die Nomaden nur noch eine kurze Fahrt vom Lager entfernt sind, steigen wir wieder in unsere Geländewagen und folgen dem zerklüfteten Weg, der uns zu ihnen führen soll. Obwohl die Regierung in den 1990er-Jahren damit begonnen hat, einige Straßen in Ladakh zu asphaltieren, sind viele nomadische Gemeinschaften bis heute nur über unwegsames Gelände zu erreichen

Wir gelangen zu einer Ansammlung von Rundzelten, gehalten von Holzpflöcken und befestigt mit Steinen. Ich betrete eines der Zelte und werde mit schüchternem Lächeln von Tusiltimlamo begrüßt. Die Frau trägt ein malvenfarbenes Kleid und hat sich ein Tuch um den Kopf gewickelt. Sie befeuert den Thab, ihren Herd, um den bei Nomaden in diesem rauen Klima beliebten Buttertee zu machen. In einem langen, zylinderförmigen Fass stampft sie die kochende, gesalzene Butter kräftig in den Tee.

Wir trinken aus dampfenden Tassen und erzählen uns gegenseitig Geschichten. Tusiltimlamo ist neugierig, wie alt wir sind und ob wir Kinder haben Nachdem wir an unserem Tee genippt und uns auch sonst füreinander erwärmt haben, offenbart Tusiltimlamo, dass sie ihren Kindern ein anderes Leben als das nomadische wünscht, weil es "zu hart ist". Obwohl Kaschmirwolle immer noch stark nachgefragt wird, ist es nicht leicht, damit Geld zu verdienen, und die Viehzucht ist hier oben in der Hochebene mit vielen Risiken verbunden. Ihre Welt ist so schwierig geworden, dass sich Tusiltimlamo überlegt, eine ihrer Töchter wegzuschicken, damit sie ein besseres Leben als Nonne finden möge.

Hoch die Hufe: Ein Tibet-Wildesel jagt über die Steppe.

Am folgenden Abend erreichen wir ein neues Lager, das Larrys Team in einem tiefen Tal aufgebaut hat. Die Changpa sind nur ein paar Meter weit weg. Wir werden also nicht nur ihre Familien treffen, sondern direkt neben ihnen übernachten. Am Morgen weckt mich das Blöken der Yaks, und ich stolpere aus meinem Zelt an die frische Luft, um den Nomaden dabei zuzusehen, wie sie auf der Suche nach Gras die Berge hinaufklettern.

Ich zwänge mich in so viele Schichten Kleidung wie nur möglich und gehe gemeinsam mit Larry ins benachbarte Dorf, um dort das morgendliche Geschehen zu beobachten. Ein älteres Paar rangelt mit seinen Ziegen, um sie dann in einer Reihe anzubinden und präzise wie ein Uhrwerk zu melken. Als die beiden fertig sind, laden sie uns auf einen Tee in ihr Zelt ein. Während die Frau den allseits beliebten Buttertee zubereitet, erzählt uns der alte Mann, Tundup Tsering, dass sie zwölf- bis 13-mal pro Jahr umziehen, sogar dann, wenn die Berge ganz im Schnee versunken sind. 

Es ist eine beschwerliche Existenz, aber auch eine, die er unbedingt erhalten will. "Wir haben hier eine absolute Unabhängigkeit", sagt er und erzählt, dass er ein Haus in Leh besitzt und wahrscheinlich, im Gegensatz zu den meisten Nomaden, frei entscheiden kann. „Wir bleiben hier, weil das unser Zuhause ist. Solange wir noch können, leben wir das Leben der Nomaden.“

Ein ganzes Millennium soll das Lamayuru-Kloster ("ewiges Kloster") angeblich schon überdauert haben.

Am Nachmittag führt uns Larry ein paar Hundert Meter hoch auf einen der Schieferberge. Von der umwerfenden Schönheit des Himalaya kann man schwerlich genug bekommen. Etwas weiter über uns lassen die Nomaden noch immer ihre Tiere grasen. Als es dämmert, machen wir uns alle auf den Weg, runter vom Berg bis ins Lager, wo die Temperatur schon merklich gefallen ist. 

Für die Changpa ist es einfach nur ein weiterer Herbstabend. Sie sorgen sich jetzt vor allem ums Überleben ihrer Tiere, weil mit der Nacht die bevorzugte Jagdzeit der Wölfe anbricht. Manche treiben ihre Ziegen und Yaks in steinerne Pferche, andere halten es pragmatischer und so, wie sie es auch mit allem anderen in diesem Leben machen: einfach aufs Beste hoffen. Das wird meine letzte Nacht an diesem gnadenlosen und doch einzigartig vollkommenen Ort, der einen die Demut lehrt.

Zurück in Neu-Delhi, einer der Städte, die beispielhaft für das moderne Indien stehen, hängt der Smog so dick in der Luft, dass man kaum die Sonne sehen kann – und auch nicht besser atmen als auf dem Berg vor wenigen Tagen. Ein herber Kontrast zu jenem Ort, von dem ich komme. Ladakh ist nicht das Indien, das man zu kennen glaubt. Doch wenn man durch seine imposanten Landschaften fährt und seine Menschen trifft, wird es zu dem Indien, das man nie mehr vergessen kann.

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