„Wir sind Terroiristen”

Von den Reimser Bergen, gekrönt von einer pittoresken Windmühle, bis hinunter zu den Ebenen des Marne-Tals dominieren Weinreben das Landschaftsbild. Das Anbaugebiet der Champagne umfasst fast 280.000 Parzellen, die von mehr als 16.000 Winzern bewirtschaftet werden. Die schmalen Rebzeilen liegen dicht an dicht aneinander, wie Tasten auf einem Klavier. Hier in der Grand-Cru-Lage Verzenay wachsen die dunklen Pinot Noir-Trauben, aus denen nur in guten Jahrgängen der fast schon mythische „Cristal“ Champagner des Hauses Louis Roederer entsteht. „2025 wird ein sehr guter Jahrgang“, meint Kellermeister Jean-Baptiste Lécaillon. „Mit 30 Prozent geringerer Ernte zwar, dafür aber in herausragender Qualität.“
Champagner-Lieferant des russischen Zaren

Die weißen Chardonnay-Trauben für den „Cristal“ kommen weiter südlich aus den Anbaugebieten rund um das Dorf Avize. Mit 250 Hektar eigenen Rebflächen, die in den besten Lagen über die gesamte Champagne verstreut sind, ist Louis Roederer eines der wenigen großen Champagnerhäuser, die 70 Prozent ihres Bedarfs selbst decken können. Jede Lage steht für eine andere Geschmacksnote, ein komplexes Zusammenspiel aus Bodenbeschaffenheit, Traubensorte und Sonneneinstrahlung. „Mit jedem Champagner wollen wir präzise das Terroir ausdrücken, auf dem die Trauben gewachsen sind“, sagt er. „Wir sind echte Terroiristen.“
Terroiristen, die als Haus- und Hoflieferant des russischen Zaren im 19. Jahrhundert groß wurden. Für Alexander II. entstand der berühmte „Cristal“, die erste Cuvée de Prestige der Champagne. Da sich der Monarch vor Attentaten fürchtete, wünschte er eine transparente Kristallflasche. Der Boden sollte flach und nicht wie üblich nach innen gewölbt sein, damit unter der Flasche kein Sprengsatz deponiert werden konnte. Beide Merkmale sind noch heute Markenzeichen des wohl berühmtesten Jahrgangs-Champagners der Welt. Das 1776 gegründete Familienunternehmen florierte, exportierte seine edlen Bubbles auch bis nach Japan und in die USA. Mit der russischen Revolution, dem Ersten Weltkrieg, der amerikanischen Prohibition und der Weltwirtschaftskrise stand das Haus Anfang der 1930er Jahre allerdings kurz vor dem Ruin.
Camille Orly-Roederer rettete die Maison

„Es war meine Urgroßmutter Camille, die uns rettete“, erzählt Frédéric Rouzaud, CEO von Louis Roederer in 7. Generation und damit eines der wenigen großen, noch unabhängigen Champagnerhäuser, später beim Diner im Familien-Palais in Reims. „Sie war eine echte Gesellschaftslöwin, sie modelte für Couture-Häuser, traf sich mit Coco Chanel und der künstlerischen Elite ihrer Zeit und veranstaltete hochkarätige Soiréen genau an dem Tisch, an dem wir jetzt sitzen.“
Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes übernahm sie 1932 die Leitung von Louis Roederer und brachte nicht nur das Champagnerhaus mit Charme, Chuzpe und ihren einflussreichen Kontakten wieder in die Zielgerade, sondern auch die familieneigene Pferdezucht in der Normandie. „Haben Sie die rot-blau-bemalten Stöcke an unseren Rebzeilen bemerkt? Das sind die Farben des Trabers Jamin, eines der erfolgreichsten Pferde der 50er Jahre aus der Zucht von Camille, der dreimal den Prix d’Amérique gewann.“
Louis Roederer lanciert „Brut Nature”
Ein Vorreiter im Bio-Anbau wurde sein Vater, der ab dem Jahr 2000 begann, die ersten Terroirs des Hauses biodynamisch zu bewirtschaften. Etwa die Hälfte der 250 Hektar sind heute „AB“ (Agriculture biologique)-zertifiziert. Aus diesen Flächen stammen auch die Trauben für den jüngst lancierten „Brut Nature 2018“, die fünfte Cuvée, die das Haus zusammen mit dem Schaumweinliebhaber und Designer Philippe Starck entwickelte. Nur trockene und heiße Jahre eignen sich für diesen innovativen Champagner-Stil, mit dem der Klimawandel geschmacklich erfahrbar werden soll. Gewachsen ist dieser tieftrockene und puristische Tropfen, der bewusst auf eine schmeichelnde Dosage verzichtet, in den Lehmböden von Cumières: Ein ebenso mineralisches wie solares Aroma, das auf Terroir und Klima gleichzeitig verweist – und auf den Boden der Tatsachen führt.