Die Kunst des Sammelns

Eine neue Avantgarde, mehr Facettenreichtum und fallende Preise – 2024 ist womöglich das Jahr, zeitgenössische Kunst zu kaufen. Doch wie und wo? Alles, was Sie jetzt wissen müssen.
Text Elisa Mussack
Werke von Jean-Michel Basquiat (l.) wurden 2022 und 2023 im Wert von 235,5 Millionen Dollar verkauft – er ist damit der meistgehandelte zeitgenössische Künstler.

Man kann nie genug Kunst haben – im Unterschied zu Ferienhäusern, Segelyach­ten oder ähnlichen Statussymbolen. Je mehr Kunst man sieht, desto näher will man ihr sein; je mehr Kunst man hat, desto sorgfältiger wird das Sammeln“, sagt Dirk Boll, Vorstand bei Christie’s für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Und das Schöne ist: „Je länger man sich mit Kunst beschäftigt, desto besser wird man es verstehen.“ Das beschreibt eindrücklich den Weg des Sammlers von Akkumulation zu Verfeinerung. Und besser könnten die Kaufsi­gnale bei Kunst gerade nicht stehen. Seit Ende 2023 findet auf dem Markt nach dem Einbruch durch die Corona­pandemie und dem anschließenden Revenge­-Shopping eine fast schon er­lösende Preisbereinigung statt.

Verstärktes Interesse an jungen Künstlern

Yayoi Kusama war 2023 die meistgegoogelte lebende Künstlerin – und Nr. 3 aller Künstler nach Picasso und Warhol.

2022 haben die Auktionshäuser noch Re­kordergebnisse eingefahren, doch be­reits 2023 brach das Topsegment ein. Die November­-Auktionen in New York zeigten, dass Sammler in der global unsicheren Stimmung nicht einmal für Jeff Koons, Alberto Giacometti oder Salvador Dalí so tief wie üblich in die Tasche griffen. Künstler wie sie sind für den Hauptumsatz auf dem se­kundären Kunstmarkt ver­antwortlich: 27 Prozent der Auktionsergebnisse für zeit­genössische Kunst werden von Werken der Top­-Ten-Künstler und ­Künstle­rinnen erbracht, von den Top 50 sogar die Hälfte. Die fallen­de Inflation und niedrigere Zinsraten machen Anfang 2024 Investitionen in Kunst wieder attraktiver. Die Samm­ler sind optimistisch für 2024, mehr als drei Viertel von ihnen vertrauen der Stabilität des Kunstmarktes für dieses Jahr. Aber es planen weniger als in den Vorjahren, Teile ihrer Samm­lung zu verkaufen. Wer also jetzt den Aufbau einer eigenen Sammlung vorantreiben will, sollte jenseits der etablierten Künstlerna­men schauen.

Die Zeit und die Zeichen dafür sind günstig. Nicht nur die Preise durch­laufen gerade eine Anpassung – auch die Inhalte werden breiter: Ultra-contemporary art, also Kunst von Künst­lerinnen unter 40, war 2022 und 2023 ein großer Trend. Das verstärkte Inte­resse des Marktes brachte den jungen Kunstschaffenden mehr Möglichkeiten, ein größeres Publikum zu errei­chen. Dirk Boll von Christie’s sieht ak­tuell eine Entwicklungschance für den Kunstmarkt: „Zusammen mit der grö­ßeren finanziellen Erreichbarkeit jun­ger Kunst könnte der nächste Generationswechsel dem Sammeln ein neues, goldenes Zeitalter zeitgenössischer Kunst bescheren.“ Er hofft auf eine „neue Avantgarde“, befeuert durch den Hunger des Marktes auf neue Blicke auf eine Welt weit weg vom Kanon des „alten Westens“.

Frauen werden in der Kunstwelt sichtbarer

Julie Mehretu stellte 2023 mit ihren abstrakten Landschaftsgemälden den Preisrekord für Kunst von afrikanischstäm-migen Kunstschaffenden ein.

Die Signale für diese neue Avant­garde verdichten sich: 2023 wurde der Preisrekord für ein Kunstwerk eines afrikanischstämmigen Kunstschaf­fenden gleich mehrfach eingestellt. Die äthiopisch-amerikanische Künstlerin Julie Mehretu konnte mit ihrem abstrakten Bild Walkers With the Dawn and Morning, das für 10,38 Millionen Dollar im November 2023 bei Sotheby’s in New York verkauft wurde, den eigenen Rekord von 9,32 Millionen Dollar nach nur einem Monat übertreffen. Die Kunstberaterin Julia Rosenbaum, die schon für die Kunstsammlungen der Deutschen Bank und der Roland Berger Stiftung gearbeitet hat, sieht eine weitere positive Entwicklung in der Kunstwelt: die zunehmende Sichtbarkeit von Frauen auf allen Ebenen, von Künstlerinnen, Kuratorinnen, Kunstmanagerinnen. „Diese Entwicklung verdanken wir auch einem Wandel von mehr Frauen in Führungspositionen, mehr Kunstsammlerinnen und wichtigen Meinungsmacherinnen.“

Für Sammler und Sammlerinnen weitet sich damit der Markt: „Das hat positive Konsequenzen auf die Verkäufe und den Wert von Kunstwerken, die von Frauen erschaffen wurden. Und es hat letztendlich auch einen Einfluss für Käufer und Käuferin: An dieser Entwicklung kann man teilnehmen, indem man in junge, aufstrebende Künstlerinnen investiert.“ Auf der anderen Seite der Entwicklung: NFT. Bei der digitalen Kunst, im Jahr 2021 noch der neue Preistreiber, haben sich die Verkaufszahlen mittelfristig auf einem niedrigen Niveau stabilisiert. Der größte Teil digitaler Kunst wurde auch 2023 als NFTs gehandelt, nur ist der Anteil am Gesamtmarkt mit gut zwei Prozent eine Nische für besonders Interessierte.

Dieses Jahr wird es 330 Kunstmessen geben

Die Gemälde von Julie Mehretu wurden 2023 in der Kunstgalerie White Cube in London ausgestellt. 

Wer sich dem ganzen NFT-Hype verweigert hat, lag also richtig. Es gibt eh keinen Grund, einem Trend um seiner selbst willen hinterherzulaufen, sagt Julia Rosenbaum: „Vertrauen Sie Ihrer Intuition, Ihren Vorlieben und Abneigungen. Es ist nicht nur wichtig, darüber nachzudenken, ob man mit einem Kunstwerk leben kann, sondern auch, ob man ohne es leben will.“ Die eigene innere Bibliothek aufzubauen und den eigenen Geschmack zu entwickeln ist ein ewig unabgeschlossenes Projekt. Wer direkt 2024 damit anfangen möchte, in die aktuellen Strömungen der Kunstwelt einzutauchen, der sollte sich nach Venedig begeben. Vom 20. April bis zum 24. November findet die 60. Kunstbiennale statt. Die Biennale ist zwar selbst kein Verkaufsevent, aber wenn ein Künstler oder eine Künstlerin auf der Biennale Aufmerksamkeit auf sich zieht, ziehen die Preise für deren Werk oft nach – zuletzt bei Leonora Carrington, deren surrealistische Beiträge zur Ausstellung The Milk of Dreams die Biennale 2022 bereicherten.

Falls Venedig gerade nicht auf der Liste der Destinationen steht, wird es 2024 über 330 Kunstmessen geben. Vom 13. bis 16. Juni findet in der Schweiz wieder die Art Basel statt, die auch Ableger in Miami und Hongkong hat. Die zweite große Messe für zeitgenössische Kunst ist die Frieze in London, die vom 9. bis zum 13. Oktober parallel zur Frieze Masters für Alte Meister läuft. Spannend ist sicher auch der jüngere Ableger in Südkorea. Die Frieze Seoul läuft Anfang September. Sie lässt sich perfekt mit der Eröffnung der 30. Gwangju-Biennale kombinieren. Die Messen in Deutschland sind auf den Geschmack der deutschen Sammler zugeschnitten. Vom 7. bis zum 10. November läuft die Art Cologne in der Messe Köln, die übrigens die älteste Kunstmesse der Welt ist.

Kunst wird weiterhin offline gekauft

Das teuerste, jemals auf einer Auktion versteigerte Bild war der Leonardo da Vinci zugeschriebene Salvator Mundi, der 2015 für 450,3 Millionen Dollar verkauft wurde.

In Berlin findet im September die Art Week Berlin statt. Die Hauptstadt lockt aber nicht nur mit deutschen und internationalen Ausstellern in den Hangar des ehemaligen Flughafens Tempelhof, sondern auch die Galerien der Stadt geben zu der Zeit mit einer Fülle von Vernissagen und Events einen weiten Überblick über das aktuelle Kunstgeschehen. Eine wichtige Erkenntnis auch für die kommenden Jahre: Ein physischer Ort ist für viele Galerien immer noch zwingend, denn Kunst wird weiterhin zu einem überwiegenden Teil offline gekauft. Auch wenn die Pandemie die Verkäufer hat kurz hoffen lassen, dass die teuren Messeteilnahmen oder Galerieräume in bester Innenstadtlage nicht mehr nötig sein werden. 

Doch bereits 2022 zeichnete sich ab, dass es für die Käuferschaft essenziell bleibt, die Werke persönlich zu betrachten – ihre Wirkung direkt zu erleben. Dennoch haben viele erfahrene Sammler bereits online Kunst gekauft und planen auch, es 2024 wieder zu tun. Das kann direkt über die Websites und Instagram-Profile der Künstlerinnen geschehen, über die Galerien oder auch über Kunstbörsen. Einen guten Überblick über das Angebot internationaler Galerien kann man sich auf der Plattform Artsy verschaffen, wo oft herauszufinden ist, welche Galerien die neue Künstlerentdeckung gerade vertreten. Für Nachwuchskunst dagegen gibt es Portale wie Studentenkunstmarkt, wo jeder Kauf direkt zur Finanzierung einer jungen Karriere beiträgt.

Instagram als Vermarktungsinstrument

Mit Virtual-Reality-Headsets und Mobile Devices wird immersive Kunst erleb- und sammelbar.

Instagram zeigt sich immer mehr als ein Hebel für die Vermarktung. Die Künstlerin Anna Park profitierte 2021 von einem Social-Media- Post: Die Sängerin Billie Eilish teilte eine Kohlezeichnung von Park auf ihrem Instagram-Feed. Ob Parks Erfolg auf dem sekundären Markt 2022 und 2023 damit zu tun hat oder ob Billie Eilish einfach nur ein gutes Händchen für ultra-contemporary art hat, bleibt Spekulation. Wer sich eher für den sekundären Markt interessiert, wird den internationalen Riesen Christie’s und Sotheby’s bereits begegnet sein. Für ultra-contemporary art gilt Phillips als Vorreiter, die deutschen Häuser Grisebach in Berlin oder Ketterer in München sind ebenfalls für ihre Abteilungen für Gegenwartskunst bekannt. Für einen Gesamtüberblick helfen Online-Portale wie Artprice, wo die Auktionsergebnisse der letzten Jahre aufgeführt sind, oder Lottisimo für die aktuellen Angebote der meisten, auch kleinen Auktionshäuser.

Doch jede Informationssuche online kann nicht das Gefühl ersetzen, das der Anblick eines Kunst­werks auslösen kann. Kunst kaufen ist eine intuitive Angelegenheit, und ob ein Werk zu Tränen rührt oder man sich gerade einmal zum Label „inte­ressant“ durchringen kann, hängt mindestens so sehr vom Betrachter wie vom Künstler ab. „Die Menschen haben erkannt, dass der Wert von Kunst im Inhalt liegt und nicht in der Art ihrer Vermarktung“, analysiert Dirk Boll. Auch der Maler Leon Löwentraut stimmt zu, denn trotz seines unglaublichen Vermark­tungstalents und seiner Präsenz in den Medien antwortet er ganz klar auf die Frage nach seinem Erfolgsgeheimnis: „Meine Bilder.“

Kunstberater helfen beim Sammlungsaufbau

Um die für sich interessanten Künstler, Künstlerinnen und Galerien zu fin­den, vertrauen viele Sammelnde einer unabhängigen Kunstberatung. Auch bei der Suche nach der für sich passen­den Beraterin sollten Sammelnde dem Gefühl vertrauen. Denn die gemein­same Arbeit an der Sammlung kann lange dauern: „Es ist wichtig, dass eine Verbindung und Vertrauen da sind, da man sich bestmöglich gemeinsam auf eine lebenslange Reise in Sachen Kunst begibt“, sagt Julia Rosen­baum. Sie unterstützt auch die Gesprä­che zwischen Kunstschaffenden und Interessierten in Formaten jenseits von Messen und Galeriebesuchen: Um die Arbeitsweise des Kunstschaffenden zu verstehen, organisiert sie regelmä­ßig Atelierbesuche für Sammelnde und Kunstinteressierte.

Doch nicht nur die Käuferschaft interessiert es, wessen Kunst sie er­wirbt. Auch für die Künstler und Künstlerinnen gewinnt es zuneh­mend an Bedeutung, wo ihre Werke hingehen. Der Maler Leon Löwen­traut möchte wissen, wer seine Bil­der kauft: „Meine Bilder sind meine Babys, da fließt meine Seele, meine Persönlichkeit ein. Jede Trennung tut ein bisschen weh, da ist es wichtig für mich, sie in gute Hände zu geben.“ Ob eine Sammlung, vielleicht sogar Ihre, einmal ein eigenes Museum beziehen wird oder ob mor­gen schon die nächsten spektakulä­ren Verkäufe – wie beispielsweise die Freddie­-Mercury­-Sammlung im letz­ten Herbst – für Herzklopfen in der Szene sorgen, eines ist der Kunst des Sammelns gemein: Jede Sammlung erzählt ihre eigene Geschichte und of­fenbart dem Betrachter das schönste Bild, das wir uns von den Sammeln­den machen können.