Wieso es Kreative nach Marseille zieht

Immer mehr Künstler, Köche und Investoren gehen nach Marseille. In der Hafenstadt am Mittelmeer finden sie Schönheit im Chaos und entdecken Luxus in Gegensätzen. Eine Spuren­suche mit dem Rolls-Royce Ghost.
Text Anna Walter
Doppelt verglaste Fenster schirmen das Fahrzeuginnere des Rolls-Royce Ghost ab.

Wo die Küstenabschnitte der Côte d’Azur lieblich sind, mit sanften Kurven, idyllischen Fischerdörfern und goldenem Licht, sind die Straßen von Marseille laut, die Felsen schroff und die Wellen kräftig. Als Reiseziel wurde die französische Hafenstadt lange Zeit übersehen. Zu zehrend waren die sozialen Konflikte und wirtschaftlichen Ungleichheiten. Nun erfährt Marseille eine Aufmerksamkeit, die es seit seiner Auszeichnung als Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2013 nicht erlebt hat. Immer mehr Designer, Künstler, Köche, Unternehmer und Investoren zieht es ans Mittelmeer und mit ihnen eine beachtliche Zahl von Reisenden. Sie alle sind auf der Suche nach einem Ort, der ungeschliffen ist.

Marseille ist eine Stadt der Gegensätze

Die zweite Generation des Ghost misst 5,5 Meter. Hier in Metallic Orange für 402.375 Euro.

Die älteste und zweitgrößte Stadt Frankreichs zählt 870.000 Einwohner und unterscheidet sich in jeder Hinsicht vom Rest des Landes. Sie hat mehr mit Algier oder Neapel gemeinsam als mit dem benachbarten Aix-en-Provence. Hier verschmelzen kulturelle Einflüsse von Einwanderern aus Armenien, Italien, Spanien und Nordafrika. Wer durch die verschiedenen Viertel fährt, sieht herrschaftliche Fassaden und Hochhaussiedlungen aus Beton, Galerien und Graffiti. Altes und Neues existiert nebeneinander, Glanz und Schmutz schließen sich nicht aus. Marseille bemüht sich nicht, schön zu sein, und ist dadurch etwas ganz anderes: echt. Die Stadt steht sinnbildlich für eine Gesellschaft, in der Individualität das höchste Gut und Authentizität die wichtigste Währung geworden ist. Sie ist Treffpunkt einer Generation, die Luxus neu denkt.

Mit einem Ghost fällt man in Marseille auf. Während sich das Gefährt über die steilen Straßen schiebt, bildet die Stille im Fahrzeuginneren einen Kontrast zum Geräuschpegel, der draußen herrscht. Mehr als 100 Kilo Dämmmaterial sind in Dach, Türen und Radhäusern verbaut, die Fenster wurden doppelt verglast. Gleichzeitig fügt sich die Limousine ein in die Idee von einer neuen Art Luxus, die Marseille so spannend macht. Wie die dynamische Hafenstadt hat auch Rolls-Royce in den letzten Jahren einen radikalen Wandel durchlebt. Das Durchschnittsalter der Kunden ist von 60 auf 40 Jahre gesunken. Mit dem Ghost sprechen die Briten eine jüngere, unkonventionelle Zielgruppe an. Statt chauffiert zu werden, möchte diese lieber selbst das Steuer in die Hand nehmen, was sich nicht zuletzt am griffigen Lenkrad bemerkbar macht.

Das erfolgreichste Modell von Rolls-Royce

Der Ghost ist auch deshalb so beliebt, weil er sich besonders gut personalisieren lässt.

Statt Dekadenz strahlt der Ghost Zurückhaltung aus. Seine Silhouette ist gewohnt architektonisch, aber seine Konturen sind dezenter, die Scheinwerfer und Rücklichter schlichter gehalten als bei anderen Modellen der Manufaktur. Die gegenläufigen Türen öffnen sich automatisch, per Knopfdruck lässt sich auch der V12-Motor starten. Während man in die butterweichen Ledersitze sinkt, beschleunigt der Ghost in 4,8 Sekunden von 0 auf 100 km/h. Seine Federung ist mit einem Kamerasystem verbunden und reagiert auf Unebenheiten, bevor diese sich erahnen lassen.

Er gleitet durch schmale Gassen und vermittelt trotz seines stattlichen Gewichts von zweieinhalb Tonnen das Gefühl von Leichtigkeit. Heute, 15 Jahre nach seiner Einführung, ist der Ghost das erfolgreichste Modell von Rolls-Royce. Das lässt sich auch darauf zurückführen, dass er sich besonders gut personalisieren lässt. Frei von technischen und ästhetischen Zwängen können Ghost-Käufer mit dem Bespoke-Programm ihre Individualität zum Ausdruck bringen. Individualität ist es auch, was Pariser mit dem Ende der Pandemie und dem Beginn einer neuen Arbeitswelt in den Süden gelockt hat.

Gastronomie- und Kunstszene boomt

Start-ups aus Logistik, Mobilität und Transport haben sich in Marseille angesiedelt und das Interesse von ausländischen Investoren geweckt. In den vergangenen Jahren sind die Immobilienpreise um rund 30 Prozent gestiegen. Inzwischen stammt fast jeder zehnte Hauskäufer aus der Hauptstadtregion Île-de-France, aber auch Menschen aus anderen Teilen der Welt finden am Mittelmeer einen lebenswerten Ort. Das amerikanische Supermodel Erin Wasson und ihr Ehemann Barth Tassy haben 2021 ihr New Yorker Penthouse verkauft und an der Hafenpromenade ein Café eröffnet. 

Der Koch Paul Langlère hat dem legendären Luxushotel Plaza Athénée in Paris den Rücken gekehrt, um sich mit einem Restaurant in Marseille niederzulassen. Nicht nur die Gastronomieszene boomt, auch zeitgenössische Kunstgalerien, Concept-Stores und innovative Hotelkonzepte florieren. Schlussendlich liegt die Anziehungskraft von Marseille in seiner Vielschichtigkeit. Die Stadt ist energiegeladen, unangepasst, wild. Und vielleicht bald um den ein oder anderen Ghost reicher.